Du bestimmst, was da ist und was nicht.

Ein akustisches Wirrwarr aus Störgeräuschen, welche an Straßenbau-, Flugzeug- und Alltagslärmsequenzen erinnert, leitet die als Expedition bezeichnete Audio-Tour ein. Ich befinde mich zum mit mir individuell vereinbarten Zeitpunkt vor der Haustür eines Eckhauses am Stannebeinplatz. In dem Wächterhaus in Schönefeld, in dem sich die Projektwohnung „krudebude“befindet, wurde ich zuvor von einer Frau, ähnlich einer Empfangsdame, erwartet, freundlich begrüßt und instruiert. Ich trage Kopfhörer und stehe in einem Rechteck aus aufgemalter Kreide.

1

Ein hallendes „Hallo. Ist da jemand? Hörst du mich?“ mischt sich in die lärmende Geräuschkulisse.

„Da bist du ja. Habe ich deine volle Aufmerksamkeit? Gut. In den nächsten 30 Minuten werde ich dich auf deinem Weg begleiten. Ich bin bloß eine Stimme. Damit ich existieren kann, brauche ich jemanden, der mich hört. Ich bin nur durch dich. Du glaubst dem was du siehst, mehr als dem was du hörst. Trotzdem bitte ich dich mir zu vertrauen. Ich werde dich führen, dafür bin ich ja da.“ Ich werde zudem von der Stimme vorgewarnt, auf dem Weg in meiner eigenen Welt zu sein und Dinge zu hören, die mir real erscheinen mögen und Dinge zu sehen, die ich für echt halte.

Hörbare Schritte geben während der gesamten Tour mein Lauftempo vor und garantieren mir, dass ich nicht „verloren“ gehe. Ich bemerke, dass mein eigenes Schritttempo schneller ist und gleiche es an. Das Verlangsamen lässt mich entspannen. Die Stimme schlägt mir vor, mir vorzustellen, dass jeder Schritt ein Wort wäre. Was für ein seltsames Gedankenspiel! Ich versuche mich darauf einzulassen.

Auf meiner Expedition begleiten mich ähnlich einer Collage Geräusche, sphärische Klänge, Schritte, Musik und Stimmen, die mich lotsen, auffordern gedankliche als auch reale Versuche anzustellen und ab und an Texte zitieren. Ich erhalte den Auftrag irgendetwas zu finden, das mir auf meinem Weg auffällt. „Vielleicht ist es ein kleines Blatt oder ein Stein. Es kann ein Klang sein, ein Geruch, eine besonders intensive Farbe.“

Als sehr markanten Moment habe ich die erste Station der Audio-Tour in Erinnerung. Ich stehe erneut in einem Kreide-Rechteck, diesmal auf einer Brücke. Mein Blick schweift über die Zuggleise. In meiner Vorstellung sehe ich mit Hilfe der Hörsituation einen Zug vom Bahnhof in meine Richtung fahren. In einer Art historischem Flashback höre ich eine Pferdekutsche auf einer alten Landstraße rollen. Das Gehörte wird zu meiner Überraschung vor meinem inneren Auge tatsächlich sichtbar! In der sommerlichen Abenddämmerung fange ich sogar eine kühle Schneeflocke und lass sie in die Tiefe fallen.

3

Während meiner Expedition bewege ich mich durch das Viertel. Ich laufe mit allerlei Sinneseindrücken Straßen entlang und betrete einen Park. Nachdem ich ein Tor aus Buchen durchschreite, erkenne ich dahinter einen riesigen Tanzsaal, in dem Bratschenmusik ertönt. Meine Imagination wird durch andere Parkbesucher und einen Hund gestört. Die Stimme in meinen Ohren erzählt, dass sich alles um mich herum zu drehen beginnt und meint „Du drehst dich mit.“ Das will mir nicht gelingen, ich beschließe den Moment in meiner Vorstellung zu genießen. Ich muss lächeln, da ich mir vorstelle, dass die Parkbesucher sich bestimmt über die tanzenden Kopfhörerträgerinnen an diesem Abend wundern.

Nach einer weiteren Etappe, dem Besuch der „Zentrale des Rauschens“, begebe ich mich mit meinem gefunden Gegenstand, einem mit Klarsichtfolie überzogenen halbleeren Dessertglas, zurück in die „krudebude“, um ein Stück Wirklichkeit zu archivieren.

Mit einem zufriedenen Schmunzeln betrete ich die charmant verfallene und ruhig wirkende Wohnung. Die Räumlichkeiten sind mir durch andere Kulturveranstaltungen, wie Konzerte, Lesungen, Ausstellungen und Theaterinszenierungen vertraut, heute strahlen sie eine ganz andere Stimmung aus: Die drei Zimmer gleichen einem Kuriositätenkabinett, in dem alltägliche Fundstücke drapiert und durch Titel, Datum, Anmerkung und Nummer gekennzeichnet sind. Es ist spannend die mitgebrachten Dinge der anderen Expeditionsteilnehmer zu betrachten: Scherben, Kisten, verschriftlichte Erinnerungen, eine Visitenkarte, ein Knicklicht. Besonders ein blinkendes mit Geräuschen gefülltes Marmeladenglas bleibt mir in Erinnerung.7

4

6

alleswaswei(ss)istschnee_flyer_exportMilena Noëmi Kowalski, die Dramaturgin des Projektes, hat sich bei der Konzeption der Expedition von dem Theaterstück „Kaspar“ von Peter Handke inspirieren lassen, verrät sie mir. Es handelt von der Situation eines in die Welt geworfenen Menschen, der dem historischen Findelkind Kaspar Hauser vor rund 200 Jahren nachempfunden ist. Ohne Verhaltensmuster, auf wackligen Beinen und mit geringem Sprachschatz ist Kaspar angstvoll seiner Umgebung, aber gleichzeitig auch einer großen Freiheit und seiner Fantasie ausgesetzt.

Die Theaterexpedition „alles was weiß ist schnee“ schafft es ohne direkte Hinweise auf beeindruckende Weise diese Situation durch akustische Reize zu adaptieren und eine Spielerei zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu ermöglichen. „Das Spannende war, dass die Route an sich unspektakulär, alltäglich war. Aber durch die Expedition lief ich die Strecke mit einer anderen Achtsamkeit und Sinneswahrnehmungen ab.“, so schildert auch Tina Müller, eine begeisterte Expeditionsteilnehmerin, ihre Eindrücke nach der Audio-Tour.

Theaterexpedition „alles was weiß ist schnee“ veranstaltet im Rahmen des INTRO Festival Leipzig (24., 25. und 26. Juni 2016)

Autor_in: Theresa Kroemer, Fotografien: Theresa Kroemer

/// Du willst weitere Artikel im Ressort Theater lesen?

[Lies hier über politisches Theater und das Werk X in Wien]

Hinter’m Mainstream aus Inhaltslosigkeit – Politisches Gegenwartstheater

Einer meiner Dozenten formuliert es so: Menschen, die einen Gegenstand der Gesellschaft begreifen und präsentieren, bevor es die Gesellschaft selbst tut, das sind Künstler_Innen.

Wie pathetisch der Gedanke, die Kunst könne uns von allem Übel befreien. Ich reagiere immer wieder schmunzelnd auf diese Aussage, denn ich erlebte viele – wirklich viele – ‚Kunststücke‘ oder Versuche solcher, die inhaltlich auf ein großes leeres Loch zusteuerten. Aber unterschätze ich sie vielleicht, die Kunst? Bin ich zu geblendet von rein kommerziell gerichteten Unterhaltungsprogrammen und dem gängigen Kulturpessimismus? Ein genauerer Blick lohnt, so hoffe ich, und denke an Theater mit all seinen Formen – an die potentielle Magie zwischen Klassik und dem Performativen.

Anfang November 2014: In Deutschland gibt es in der medialen Öffentlichkeit nahezu kein anderes Thema mehr als das 25-jährige Jubiläum des innerdeutschen Mauerfalls. Zum gleichen Zeitpunkt entfernt eine Gruppe von künstlerischen Aktivist_Innen 14 weiße Kreuze, die im Berliner Regierungsviertel den Mauertoten als Denkmal gesetzt wurden. Kurze Zeit später bekennt sich das Zentrum für politische Schönheit dazu. Dabei handelt es sich um ein Kollektiv aus Aktionskünstler_Innen und Theatermachenden. Auf ihrer Internetseite folgt kurze Zeit später ein Statement:

„25 Jahre nach dem deutschen Mauerfall sind Europas Grenzen dicht. Zehntausende Menschen ertrinken, dehydrieren und kentern an Europas Außenmauern.“

Die Aktion deckt einen Widerspruch auf: Die Überwindung der innerdeutschen Mauer wird gefeiert. Den Leiden derjenigen, die jenseits einer Grenze auf ein besseres Leben hofften, wird gedacht. Die selbe Überwindung jedoch wird heutzutage tausenden von Flüchtlingen verwehrt. Das Zentrum für politische Schönheit übersetzt die Problematik in eine Sprache, die auch von den Menschen verstanden werden kann, die den traumatisierenden Zwängen einer solchen Flucht aktuell nicht ausgesetzt sind – in das eigene und das gefühlte Leid. Schon Konstantin Stanislawski, ein wichtiger Theaterregisseur und Schauspieler des 20. Jahrhunderts, schrieb einmal: „Ein fremdes Gefühl zu leben ist unmöglich, solange es nicht zum eigenen geworden ist.“ Die Aktion packt das Leid, die Grausamkeit, das Übel und die Unmenschlichkeit, was mit dem Fall der Mauer für einige Menschen überwunden wurde. Worüber in den vergangenen Jahren so viel berichtet wurde und woran sich so viele Menschen noch erinnern können, wird in das Jahr 2014 katapultiert. Die weißen Kreuze wurden als Zeichen für die Verbundenheit zwischen den Fliehenden damals und denen der heutigen Zeit an die europäischen Außengrenzen gebracht. Zudem sammelten die Aktivist_Innen Spenden, fuhren mit Bussen an die so genannten „Eindämmungsanlagen“ und riefen dazu auf, auch diese Mauern friedlich zu stürzen.

Foto: Eva Philippi
Foto: Eva Philippi

Wie weit darf die Kunst gehen, um die Gesellschaft auf ein Problem aufmerksam zu machen? Reicht es, etwas zu verstehen und es anderen zu erklären, oder ist das vielleicht noch nicht einprägsam genug? Darf man vielleicht sogar Gesetze brechen, rauben, morden? Alles für den einen Zweck, für die Kunst! Ein Blick in den realkünstlerischen Alltag, der nun mal nicht aus Jubiläen und bundesweit medial verbreiteten Kunstaktionen besteht, zeigt wie dort mit gesellschaftlichen Problemen umgegangen wird. Ich habe mich mit Hannah Lioba Egenolf, leitende Dramaturgin des Wiener WERK X, getroffen. Es handelt sich dabei um ein Theater, auf dessen Spielplan von freier, experimenteller Offszene bis hin zu etablierten Theaterschaffenden alles zu finden ist. Hannah selbst beschreibt das WERK X als „zeitgenössisch, relevant, progressiv.“ Zuletzt hat das Theater auf sich aufmerksam gemacht, weil es sich vergrößerte. Neben dem kleinen Theaterraum im Ersten Wiener Bezirk (mittelster Bezirk Wiens, indem der größte Teil des Kulturlebens stattfindet) gibt es nun auch eine große Bühne im 12. Außenbezirk Meidling.

INTERVIEW

IL PALCO: Findest du, dass Theater tatsächlich in der Lage ist, aktuelle Probleme aufzugreifen und Missstände zu beheben?

Hannah Lioba Egenolf: Das Theater kann und muss die richtigen Fragen stellen! Für meinen Begriff muss Theater nicht die Antworten geben, aber eben gesellschaftskritische Fragen aufwerfen und zum (Um)denken anregen.

IL PALCO: Wie wird bei euch zwischen unterhaltenden Kassenschlagerstücken und gewagteren theatralischen Projekten abgewägt? Kann beides zusammengeführt werden?

Egenolf: Aus Stadttheatersicht sind unsere Theaterproduktionen sicher alle gewagt – das zeichnet uns ganz grundsätzlich aus. Wir wollen dadurch überzeugen, dass wir Projekte machen, die am Stadttheater vielleicht so in der Form nicht möglich sind – und das aber natürlich auf hohem künstlerischem Niveau. Unsere nächste große Produktion Proletenpassion 2015 ff. mit Premiere Ende Januar 2015 könnte so was sein, was du mit Zusammenführung meinst – die Proletenpassion ist ein Wiener Mythos, jeder hier kennt die Songs, einige Generationen sind damit aufgewachsen. Wir erzählen nun diesen Mythos neu, brechen ihn auf und lassen die Songs musikalisch neu arrangieren.

Das Stück schlägt aber natürlich auch in eine hochpolitische Kerbe. Es stellt u.a. Fragen wie: Wer sind die Proleten von heute und wo leben sie? Wann kommt die Revolution, wenn sie überhaupt kommt? Können wir die Geschichte noch immer als Abfolge von Klassenkämpfen lesen?

IL PALCO: Gesellschaftskritik kann und soll bei euch also immer mitschwingen.Würdest du das als ‚Politisches Theater‘ bezeichnen?

Egenolf: Das Bewusstsein für politisch relevante Themen sollte eigentlich jeder Theatermacher / jede Theatermacherin haben.

Politisches Theater hat für mich nicht nur mit Tagespolitik zu tun. Es geht um eine grundsätzliche Haltung zu den Themen der Politik und Gesellschaft. Das WERK X als Ganzes steht für einen kritischen Umgang mit gesellschaftlichen Themen: Mitte November war die Premiere der Uraufführung Seelenkalt – eine Bearbeitung des Romans von Sergej Minajew. Ein russischer Gegenwartsautor, der einen Roman über die Generation Putin geschrieben hat und über die Lücke, die der Zusammenbruch der Sowjetunion in seiner Generation (er selbst ist Jahrgang 1975) hinterlassen hat.

IL PALCO: Apropos Gesellschaftskritik, hat die Vergrößerung und der Umzug nach Meidling auch zum Ziel gehabt den Ersten Bezirk zu verlassen und damit auch ‚elitärer Oberschichtenunterhaltung‘ den Rücken zu kehren?

Egenolf: Natürlich ist es jetzt für uns spannend zu beobachten, wer kommt raus zu uns, wie ist generell der Publikumsstrom. Wir haben zu Beginn viel Werbung gemacht mit Claims wie „Theater am Arsch der Welt“. Damit sind wir sehr gut gefahren, viele sind auf uns aufmerksam geworden, auch überregional.

Der Schritt nach Meidling zu gehen war natürlich auch begründet in der Tatsache, dass es hier größere Räumlichkeiten gibt – dass man einen Raum hat, der jetzt auch international konkurrenzfähiger ist. Und natürlich ist es auch ein bewusster Schritt, zu sagen: Wir bewegen uns jetzt an den Rand der Stadt und machen dort Theater.

Wir sind mit unserem Eröffnungsprojekt direkt in den Bezirk reingegangen und haben uns mit unserem neuen Standort inhaltlich intensiv auseinandergesetzt. Es ist auf jeden Fall eine Challenge, die Wiener dazu zu bewegen, auch in zweistelligen Bezirken ins Theater zu gehen.

Foto: Sira Möller
Foto: Sira Möller

Ob durch das Zentrum für politische Schönheit oder das WERK X, ob in Deutschland oder in Österreich. Egal wo, egal wer. Theater kann der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten und Fragen stellen, Probleme aufdecken und vielleicht sogar lösen. Wer dies nun als pathetisches Happy End des Artikels versteht, den muss ich enttäuschen. Diese Art von Kunst, die muss man in, unter oder hinter dem riesengroßen Mainstream aus Inhaltslosigkeit erst einmal finden.

 

Dieser Artikel stammt aus unserer 1. Ausgabe (IL PALCO #1 PDF)

Bildschirmfoto vom 2016-03-19 12:39:40

 Autor_in: Sira Möller

Willst du weiter im Ressort THEATER lesen?

Klick hier, um mehr über die Audio-Theaterexpedition „alles was weiß ist schnee“ erfahren